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Beitrag vom 10.06.2008
Sexismus im Gerichtssaal
Andrea Petzenhammer
Ein französisches Gericht hat auf Wunsch des Ehemanns die Heirat mit einer, wie die Medien titeln, "falschen Jungfrau" annulliert. Er sei über eine "wesentliche Eigenschaft" getäuscht worden.
Ein Gericht in Lille hat eine zwischen zwei muslimischen PartnerInnen im dem Jahr 2006 geschlossene Ehe wegen der "fehlenden" Jungfräulichkeit der Frau annulliert. Das Gerichtsverfahren zog sich über zwei Jahre und am Ende sahen es die Richter als erwiesen an, dass die Partnerin ihren Gatten "über eine wesentliche Eigenschaft getäuscht" habe und deshalb die Ehe auf Wunsch des Mannes für ungültig erklärt werden kann.
Rachida Dati, die französische Justizministerin, befand in einer ersten Reaktion, dass eine Annullierung bei den gegebenen Umständen letztlich auch das Beste für die Frau sei. Nach einem Sturm der Entrüstung in der französischen Bevölkerung hat sie jetzt – ohne die Zustimmung der betroffenen Frau – Berufung gegen das Urteil von Lille eingelegt.
Jungfräulichkeit als "wesentliche Eigenschaft"
Historisch gesehen ist die Annullierung eine etwas verstaubte Angelegenheit, der entsprechende Paragraph aus dem "Code Civil" stammt noch aus Zeiten Napoleons. Darin wird festgelegt, dass eine geschlossene Ehe bei wissentlichem Verschweigen von Informationen zur Identität oder Unfruchtbarkeit, einer kriminellen Vergangenheit sowie einer vollzogenen Scheidung für ungültig erklärt werden kann.
Die fehlende Relation zwischen den Tatbeständen Jungfräulichkeit und "krimineller Vergangenheit" erklärt der Anwalt des fünf Jahre älteren Beinahe-Ehemannes damit, dass es nicht um die Jungfräulichkeit ginge, sondern darum, "ob man eine Lügnerin heiraten kann".
FrauenrechtlerInnen sehen das anders. Die iranische Schriftstellerin Chahdortt Djavann verglich das Urteil mit der Rechtsprechung von Mullahs im Iran und auch die Frauen der französische Vereinigung "Ni putes ni soumises" ("Weder Hure noch unterwürfig"), die die Rechte von muslimischen Frauen proklamieren, sind entsetzt. Die Präsidentin der Organisation, Sihem Habchi, nannte das Urteil einen "Verrat an den Frauen" und eine "Fatwa", also eine islamisches Rechtsansicht, "innerhalb der Rechtsprechung, die Frauen diskriminiert".
Das Urteil ist sexistisch
Interessant wäre doch, ob das Gericht bei einer entsprechenden Unwahrheit zum vorehelichen Sexualleben des Mannes ebenfalls auf eine "wesentliche Eigenschaft" entschieden hätte. Abgesehen davon, dass sich der Tatbestand Jungfräulichkeit nicht mit den bisher definierten Annullierungsgründen vergleichen lässt, ist das Urteil diskriminierend. Denn Männer werden äußerst selten zu ihrer vorehelichen Keuschheit befragt, und wenn, dann nicht mit Hinweis auf die "Ehre der Frau". Besonders zwiespältig ist auch die Handhabung de Nachweises: Nur Frauen können über ein fehlendes Jungfernhäutchen kontrolliert werden.
Immerhin steht das Urteil in einem interessanten medizinischen Kontext: Der Spiegel berichtete im März 2008 von Schönheitsoperationen im Libanon, die auch die Reparation des "Jungfernhäutchens als letzte Kontrollinstanz einer patriarchalischen Gesellschaft" einschließen.
Weitere Informationen und Reaktionen der Presse unter:
www.niputesnisoumises.com
www.faz.net
www.sueddeutsche.de
www.nt-v.de
www.focus.de
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Die Publizistin Nasrin Amirsedghi sprach Anfang Mai 2008 über die "Situation von Frauen unter der Herrschaft der Mullahs im Iran nach 1979".
Unsere Rezension zum Film "Football Under Cover", die charmante Thematisierung der Geschlechterverhältnisse im Iran. (2008).
Unsere Rezension zum Buch "Mythos Jungfrau - die Kulturgeschichte weiblicher Unschuld", (2008).
Unsere Rezension zum Film "Fremde Haut", (2005) über Homosexualität, Abschiebung und sexuelle Selbstbestimmung mit Jasmin Tabatabai.